INTERVIEW

"Werbung zerstört die Semantik" - Interview mit Robert Cailliau (CERN)

Der Belgier Robert Cailliau hat zusammen mit dem Amerikaner Tim Berners-Lee Ende der achtziger Jahre am "European Laboratory for Particle Physics" (CERN) in Genf das World Wide Web entwickelt. Auf der Konferenz "Internet und Politik", die vom 19. - 21. Februar in München stattfand, hielt Cailliau einen Vortrag über die Geschichte des Web.

SPIEGEL Online: Herr Cailliau, sind sich das Internet und die Politik in den vergangenen Tagen näher gekommen?

Cailliau Ja. Der Kongreß ist ausgezeichnet. Es war sehr notwendig, daß Politiker und Technologen zusammengebracht wurden. Wir haben jetzt festgestellt, daß die Technologen politisch naiv sind, aber auch daß die Politiker technologisch naiv sind. Es besteht immer noch eine große Kluft. Der nächste Schritt wäre, dafür zu sorgen, daß beide Seiten noch einmal die Schulbank drücken und voneinander lernen.

SPIEGEL Online: Haben Sie den Eindruck, daß eine echte europäische Perspektive in Sicht rückt, trotz der vielen Amerikaner, die hier anwesend sind?

Cailliau Nun ja, Europa hat einfach den Anschluß verpaßt. Das Web wurde 1989 am Europäischen Laboratorium für Teilchenphysik (CERN) erfunden. Zwischen 1990 und 1996 ist in Europa, außer den Maßnahmen von CERN und der Europäischen Kommission, im Grunde genommen nichts passiert. 1997 wurden unserem Labor dann von den Mitgliedsstaaten die Mittel gekürzt.

Das ist also unsere Situation in Europa - anstatt hervorragende, internationale Zusammenarbeit, wie die an unserem Labor, zu fördern, rennen wir herum wie Hühner, denen man den Kopf abgeschlagen hat, und warten ab, bis jemand von jenseits des Atlantik daherkommt und uns zeigt, wie man solche Dinge aufzieht. Ein echtes Problem ist, daß wir immer noch diese Staatsgrenzen und unterschiedlichen Sprachen haben. Wenn innerhalb Deutschlands oder innerhalb Frankreichs etwas passiert, versucht man das Problem dort zu lösen; und wenn es nicht lösbar ist, ist der Reflex noch immer nicht, die Nachbarländer anzusprechen, sondern man fragt - besonders wenn es um Technologie geht - jenseits des großen Teichs an. Von den unmittelbaren Nachbarn nimmt man keine Notiz und wendet sich stattdessen direkt ans Silicon Valley. Wunderbar. Toll. So muß es sein!

SPIEGEL Online: Auf dem Kongreß haben wir etwas über die Ambitionen gewisser amerikanischer Politiker erfahren, das 21. Jahrhundert mittels der Informationstechnologie zu beherrschen. Sie weisen nun auf unsere Defizite in Europa hin. Der Effekt ist letztlich der gleiche...

Cailliau Unbedingt. Na ja, ich glaube nicht, daß die amerikanische Öffentlichkeit oder die Amerikaner hier auf dem Kongreß die Welt beherrschen möchten. Wenn Ihre Partner nichts unternehmen und Sie alles allein machen müssen, dann werden Sie am Ende etwas nervös und ungeduldig. Wir Europäer bewegen uns einfach zu wenig vom Fleck. Wir sind zu stolz und zu besitzergreifend in Bezug auf unsere lokalen Rechtsräume und unsere kleinen lokalen Staaten. Und wir delegieren die Macht nicht an eine größere Einheit. Die Europäische Kommission hat die größten Schwierigkeiten, die einzelnen Mitgliedsstaaten dazu zu bewegen, ihre Vorschläge anzunehmen. Also werden wir zum Schluß zwei Möglichkeiten haben: Europa kann die dritte oder vierte Macht in der Welt werden, bestenfalls; oder aber wir bewerben uns als Mitgliedsstaaten der USA.

SPIEGEL Online: Als einer der Väter des World Wide Web haben Sie den gewaltigen Erfolg Ihrer Erfindung erlebt. Woran arbeiten Sie heute?

Cailliau Nun, ich mache zwei Dinge. Bei CERN bin ich zuständig für das "Web Office" - das ist CERNs eigenes Intranet. Außerdem bin ich Vorsitzender des "International World Wide Web Conference Committee". Das ist ein Komitee, das auf wissenschaftlicher Ebene eine Reihe von großen, technologischen Konferenzen zum World Wide Web veranstaltet. Das sind nicht die Kongresse für Geschäftsleute und Leute, die das Internet noch kennenlernen wollen. Es sind Kongresse, auf denen Leute zusammenkommen, die diese Technologie vorantreiben. Der nächste findet im April in Santa Clara statt. Das wird der sechste sein.

SPIEGEL Online: Ist Ihrer Meinung nach ein Ende der Ära des World Wide Web abzusehen?

Cailliau Noch lange nicht. Das World Wide Web wird nicht verschwinden, ebensowenig wie die elektronische Post, das Telefon (oder etwas entsprechendes) - ebensowenig wie Papier und Bleistift. Wir sollten nicht vergessen, daß das Web noch sehr jung ist, nicht älter als fünf oder sechs Jahre. Es gibt also noch vieles, was man machen kann. Und wenn man sich den ursprünglichen Prototyp anschaut, den Tim Berners-Lee 1990 gebaut hat, sind die meisten Systeme, die man heute in der Public Domain oder sonstwo sieht, noch lange nicht in der Lage, zu leisten, was dieser Prototyp konnte. Zur Zeit herrschen Forderungen nach mehr Visualisierung vor, die Leute wollen mehr von dem visuellen Zeug. Ich glaube nicht, daß das dem Web besonders gut tut. Aber auf irgendeine Weise wird auch diesem Wunsch entsprochen werden.

SPIEGEL Online: Das World Wide Web hat den Zugriff auf eine überwältigende Menge an Information möglich gemacht. Sehen Sie nicht die Gefahr, daß durch dieses Übermaß der Wert der einzelnen Informationen und die Chance einer effizienten Nutzung verringert werden könnten?

Cailliau Nicht tiefgreifender, als das beim Papier der Fall ist. Wenn man heute in der Welt der Hochenergiephysik dem Web den Stecker rausziehen würde, käme der Wissenschaftsbetrieb schlagartig zum Erliegen. Unsere gesamten wissenschaftlichen Veröffentlichungen gehen heute zunächst ins Web. Dort findet man die neuesten Sachen.

Der durchschnittliche Newcomer im Web ist natürlich überwältigt. Es gibt inzwischen fast 500 000 Server. Aber Technologien wie PICS werden es uns ermöglichen, nach Inhalten zu selektieren. Sie helfen dem Benutzer bei seinen Bemühungen, Sachen zu finden und Orte aufzusuchen, an denen das, woran er interessiert ist, bereits aufgearbeitet worden ist.

SPIEGEL Online: Die Zukunft des Webs liegt also darin, daß es in Form von Meta-Informationen eine reichhaltigere Struktur erhält, die die Navigation erleichtert?

Cailliau Ja. Aber all diese Dinge, zum Beispiel die Idee der Meta-Informationen, waren von Anfang an da. Sie wurden nur bisher nicht genutzt.

Stattdessen hat die Wirtschaft, als sie auf den Zug aufgesprungen ist, Werbung produziert. Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, um eins zu sagen: Wenn Leute von den gefährlichen Dingen im Web sprechen - womit sie meistens Sex und Gewalt meinen - dann sollte man eine dritte, sehr gefährliche Sache hinzufügen, die auch nicht für Kinder geeignet ist, nämlich Werbung. Werbung zerstört die Semantik: Sie lenkt Aufmerksamkeit auf sich, indem sie etwas aussagt, was nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmt.

Als die Wirtschaft sich im Web breitgemacht hat, hat sie es einfach als neues Werbemedium betrachtet. Und das ist es, was wir heute sehen. Aber die Öffentlichkeit wird sich nicht alles gefallen lassen. Sobald man gelernt hat, sich im Netz zu bewegen, wird man lernen, der Werbung aus dem Weg zu gehen.

Es gab eine sehr interessante Initiative der Europäischen Kommission. Ich weiß nicht, inwieweit sie schon umgesetzt wurde. Es wurde erwogen, eine Art Lizenz für Net User einzuführen, eine Art Führerschein. Ein Provider im Internet würde Sie, bevor er Ihnen einen Zugangscode übergibt, nach Ihrem Net-Führerschein fragen, genauso wie eine Mietwagenfirma Sie nach Ihrem Autoführerschein fragt, bevor sie Ihnen die Schlüssel für den Wagen aushändigt.

Denn als Bürger sollten Sie bestimmte Dinge wissen: Sie sollten wissen, wie Sie sich schützen können, Sie sollten die Gefahren kennen, die Auswahlmöglichkeiten, wissen, wie man mit E-Mail umgeht, und so weiter.

SPIEGEL Online: Das wäre ein Kompromiß zwischen denen, die die vollkommene Freiheit von staatlicher Gesetzgebung fordern, und denen, die eine zentralisierte Kontrolle darüber verlangen, welche Inhalte durchs Netz fließen, und die die Provider für die übermittelten Inhalte zur Verantwortung ziehen wollen.

Cailliau Ja. Ein Teilnehmer des Kongresses hat das sehr deutlich zum Ausdruck gebracht. Er sagte: Wenn ich ans Telefon gehe und einem anderen Menschen gegenüber Morddrohungen äußere, dann werde ich ins Gefängnis geschickt, und nicht die Telefongesellschaft. Und ich finde, das Gleiche gilt fürs Netz: Der Internet Provider, der einem lediglich den Zugang ermöglicht, sollte nicht dafür zur Rechenschaft gezogen werden, was man sich anschaut. Aber der Nutzer sollte seine Rechte und seine Pflichten kennen. Und das ist es, was der Net-Führerschein zum Ausdruck bringt. Er besagt, daß man eine Schule besucht hat, daß einem bestimmte Sachen gesagt wurden und daß man eine Erklärung unterschrieben hat. Und nun weiß man, daß man im Prinzip dafür verantwortlich ist, wie man sich im Netz verhält. Eine Zensur würde ich nicht befürworten. Sie läßt sich ohnehin nicht verwirklichen.

SPIEGEL Online: Das Internet war in erster Linie ein wissenschaftliches Instrument. Würden Sie als Wissenschaftler sagen, daß dieser Bereich des Internets unter der Kommerzialisierung gelitten hat?

Cailliau Eigentlich nicht. Denn sehen Sie, unsere Internet-Verbindungen zwischen den akademischen, wissenschaftlichen Instituten liefen immer schon über eigene, spezialisierte, gemietete Leitungen. Diese Infrastruktur gibt es immer noch. Die Bandbreite, die ich am Arbeitsplatz auf meinem PC bekomme, hat überhaupt nicht gelitten. Im Gegenteil, mir stehen jetzt mehr Inhalte zur Verfügung. Ich finde nicht nur Informationen zur Physik, ich kann mir außerdem Zeitungen anschauen, und ich finde auch Informationen über kommerzielle Produkte, die ich vielleicht für meine Arbeit benötige. Die Situation hat sich also global verbessert.

SPIEGEL Online: Wie steht's mit den Forschern und den Studenten? Wenn die Breitbandzugriff auf das Netz haben, besteht da nicht die Versuchung, in all den Unterhaltungsseiten des Webs zu blättern und darüber die Arbeit zu vergessen?

Cailliau Nein. Was man da beobachtet, ähnelt sehr dem Phänomen, wenn einer einen Computer bekommt, den er eigentlich für eine bestimmte Aufgabe benutzen will. Er verbringt auch ein gewisse Zeit mit Spielen und probiert jede neue CD-Rom aus, die mit einer Zeitschrift mitgeliefert wird. Das ist in Ordnung. Es stellt sich heraus, daß jemand, der neu ins Web oder ins Internet kommt, eine Phase durchmacht, in der er wild herumsurft. Und nach einiger Zeit hat man das hinter sich und wendet sich der Arbeit zu, weil man dieses Zeug einfach leid ist. Wenn man gelernt hat, im Web das zu finden, was einen interessiert, dann verwendet man es auch dazu. Deshalb finde ich eine Schulung so wichtig.

Jeder bei CERN hat einen ständigen Zugriff aufs Netz, mit einer Geschwindigkeit von zehn Megabit pro Sekunde, rund um die Uhr, ohne die Verbindung extra aufbauen zu müssen, an jedem Schreibtisch. Das kostet uns weniger als einhundert Mark pro Person. Ich erzähle Ihnen nur, wie es im Idealfall sein könnte. Trotz dieser gewaltigen Bandbreite verwenden wir das Netz ausschließlich für die Arbeit. Wir haben pro Arbeitstag 200 000 Zugriffe auf den Hauptserver - innerhalb von CERN. Wir könnten gar nicht mehr ohne leben. Wir verteilen unsere gesamte Verwaltungsinformationen auf diesem Wege, unsere gesamten technischen Informationen, alle unsere Gruppentreffen. All diese Dinge gehen über das Web.

SPIEGEL Online: Es scheint, Sie haben Ihr Ziel erreicht, ein Netzwerk für Ihre Wissenschaftsgemeinde zu errichten, und zum Glück hat das ganz nebenbei Auswirkungen auf die globale Informationsstruktur gehabt.

Cailliau Ja. Das Web war immer, von seinen Anfängen in 1990 an, als ein Intranet konzipiert. Leider sind wir nicht auf diese Bezeichnung gekommen. Ich bin ja so neidisch auf denjenigen, dem dieser Name eingefallen ist! Denn das genau war unsere Absicht. Das Web ist innerhalb unserer Gemeinschaft schon immer ein Intranet, ein unternehmensübergreifendes Informationssystem gewesen. So habe ich auch versucht, es zu verkaufen. In unserem Falle ist die Gemeinschaft natürlich groß, sie ist global: Wir haben Kollegen, die in Instituten in verschiedenen Teilen des Erdballs sitzen. Aber das Web war für den internen Gebrauch vorgesehen. Dann ist es auch draußen wichtig geworden. Um so besser. Wir sind stolz darauf.

SPIEGEL Online: Herr Cailliau, vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Lorenz Lorenz-Meyer

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