Internet und Politik

"Wenn etwas einfach ist, hat es keinen großen Wert"

Immer wieder werden Hoffnungen laut, das Internet könne mit seinen enormen Informationsressourcen und seinen Möglichkeiten einer direkten Bürgerbeteiligung zu einer Erneuerung der Demokratie beitragen. Einer, der es wissen muß, ist der Amerikaner Andrew Blau, der sich seit Jahren theoretisch und praktisch mit dem Zusammenhang von elektronischer Kommunikation und Politik auseinandersetzt. In einem SPIEGEL-Online-Interview mahnt er zur Nüchternheit.

Andrew Blau ist Direktor des "Communication Policy Project" der Benton-Stiftung, das gemeinnützige Interessen im Kommunikationssektor unterstützt. Blau war in diesem Bereich in verschiedenen Organisationen tätig, unter anderem in der "Electronic Frontier Foundation" und der "Alliance for Community Media". Als Mitarbeiter am Institut für Tele-Information an der Columbia University hat er Forschung über die politische Bedeutung elektronischer Netzwerke betrieben. Er war unter anderem Gründungsdirektor und stellvertretender Vorsitzender des "Manhattan Neighborhood Network" und Berater der Kommission für öffentliche Information und Kommunikation der Stadt New York. Im März 1994 organisierte Andrew Blau den "Public Interest Summit", ein Treffen zwischen dem amerikanischen Präsidenten Bill Clinton und Vertretern von nationalen gemeinnützigen Stiftungen und Organisationen, um öffentliche Interessen in der Kommunikationspolitik zu diskutieren.

SPIEGEL Online: Herr Blau, Sie behaupten, daß es im Internet eine Art Inflation der Information und politischen Aktivität gibt. Was meinen Sie damit?

Blau: Wenn die Gelegenheiten zur Kommunikation und zur Einspeisung von Information in die politische Sphäre vervielfacht werden, dann geschieht im Prinzip das, was man als Überschwemmung des Marktes bezeichnet. In unserem Fall heißt die Währung Information. Immer wenn ein Markt mit einer Währung überschwemmt wird, folgt deren Abwertung - einfach wegen des großen Angebots, das plötzlich da ist.

Nehmen Sie als Beispiel die Versuche, den amerikanischen Kongreß mit Hilfe von elektronischer Post lobbyistisch zu beeinflussen. Oder ähnliche Versuche per Fax. Die Möglichkeit, E-Mails loszuschicken und dann eine Flut von Forderungen nach einer bestimmten politischen Aktion auszulösen, hatte ursprünglich große Wirkung, weil niemand im Kongreß so etwas je zuvor erlebt hatte. Aber damit war es schon bald vorbei, weil man begriff: Ach, das ist sehr leicht getan! Heute läßt sich auf solche Weise kaum noch etwas erreichen. Wenn etwas einfach ist und häufig geschieht, hat es eben keinen großen Wert. Einige sagen: Wir müssen alle Kongreßabgeordneten mit E-Mail-Anschlüssen versehen, damit wir denen immer gleich unsere Meinung sagen können. Dagegen habe ich nichts einzuwenden, aber repräsentativer wird ihr Verhalten dadurch auch nicht werden.

SPIEGEL Online: Welche Art von Währung behält denn bei dieser Inflation ihren Wert?

Blau: Wertvoll bleibt das, was man nicht elektronisch tun kann. Direkte persönliche Begegnungen, handgeschriebene Briefe - also Dinge, die sich der künstlichen Manipulation entziehen, behalten eine gewisse Glaubwürdigkeit.

SPIEGEL Online: Was ist mit Online-Koalitionen? Sie sind auch leicht auf die Beine zu stellen, waren aber trotzdem in manchen Fällen sehr effektiv. Zum Beispiel der Widerstand gegen den "Communications Decency Act". Das war eine Bewegung, die es nur durch das Internet geben konnte. Und sie hatte große Wirkung.

Blau: Darin scheint mir im Grunde das eigentliche Potential der neuen Technologien zu liegen. Nicht so sehr in der direkten elektronischen Kommunikation, sondern in der Koordination und im Abbau von Hürden, die herkömmlichem politischem Engagement im Wege stehen. Es ist über das Internet viel leichter, auf der Stelle eine Koalition aus 30 großen Organisationen zu bilden.

SPIEGEL Online: Aber besteht nicht auch dabei eine gewisse Abwertungsgefahr? Mir fällt dazu eine Geschichte ein, die wir vor einigen Jahren in Hamburg erlebt haben. Der amerikanische Musiker und Fluxus-Künstler Philip Corner war gerade Gastdozent an unserer Kunsthochschule und gab auf einer Jahresausstellung ein Klavierkonzert. Bevor er anfing, erklärte er dem Auditorium: Das hier soll ein demokratisches Konzert werden. Ich spiele so lange, wie Ihr wollt. Wenn ich aufhören soll, müßt Ihr darüber einen Mehrheitsbeschluß herbeiführen. Das Resultat war, daß er stundenlang spielen mußte, weil jeder, der genug hatte, einfach den Saal verließ. Niemand stimmte ab. Am Ende waren nur noch ein paar Leute übrig, und die ließen schließlich Gnade walten. So etwas könnte auch im Internet geschehen. Wenn es so leicht ist, wenn die Schwelle zur Bildung und Aufkündigung von Koalitionen so niedrig ist, dann fehlt ein fundamentaler Bestandteil von Politik - man ist nicht gezwungen, Kompromisse zu schließen und sich mit anderen zu arrangieren.

Blau: Ja, das ist ein Punkt, den ich für sehr wichtig halte. Befürworter des Internet als Medium politischer Betätigung singen sein Loblied, weil dort jeder mitmachen kann. Man kann im Netz neue Gruppen und Koalitionen bilden, und die Eintrittsschwellen sind äußerst niedrig. Was für den Eintritt gilt, gilt aber auch für den Austritt. Wir sind auf dem Weg zu einer Welt, die Mr. Gates einmal als "reibungslosen Kapitalismus" beschrieben hat. Da soll es dann reibungslose Politik und alle möglichen reibungslosen Dinge geben. Nun hat aber Reibung durchaus ihren Wert. Im ökonomischen Bereich verdanken viele ihren Lebensunterhalt der Existenz von Reibung. Das mag zwar irgendwie ineffizient sein, aber beim Abbau dieser Reibung werden wir gewaltige wirtschaftliche und soziale Probleme bekommen.

Außerdem bedeutet Reibung ja auch, daß es schwer ist, die Umgebung zu verlassen, in der man tatsächlich lebt. Man kann aufhören, zu Bürgerversammlungen zu gehen, aber deshalb lebt man doch weiter in der gleichen Stadt. Wenn man raus auf die Straße geht und ins Auto steigt oder zum Markt schlendert, dann befindet man sich doch immer noch dort. Im wirklichen Leben ist das Abbrechen aller Zelte physisch und logistisch ein Problem. In der virtuellen Welt ist dagegen nichts leichter. Deshalb besteht dort auch keine Notwendigkeit zu bleiben und sich für Verbesserungen zu engagieren.

SPIEGEL Online: Und was hat das für Konsequenzen?

Blau: Wenn es leichter ist auszutreten, als etwas zu verändern, dann werden sich die Menschen für diesen Weg entscheiden. Die Entstehung und Auflösung von Gemeinschaften erhält dadurch einen Anstrich von Beliebigkeit. Wenn Sie Mitglied einer elektronischen Gemeinschaft sind, beispielsweise in einer Mailingliste, denken Sie vielleicht irgendwann: Diese Leute sind albern, die haben keine Ahnung. Und dann sagen Sie sich vielleicht: Laß die doch machen, was sie wollen, ich gehe hier weg und fange eine neue Liste an. Dadurch kommt es dann zu einer starken Zunahme von Gruppen und Grüppchen, von denen sich keine mit echter Opposition auseinandersetzen muß. Wem es nicht paßt, was irgendwo gesagt wird, der gründet eben seinen eigenen Club. Oder man tritt aus und kehrt der Sache ganz den Rücken. Ich denke, es wird auf diese Weise zu einer starken Zersplitterung der Meinungen kommen. Wenn man sich jederzeit verabschieden kann, gehört man keiner echten Gemeinschaft an, und es ist so auch keine effektive politische Arbeit möglich.

Wenn uns die Technik jedoch die Bildung von Koalitionen ermöglicht, deren Ort nicht die virtuelle, sondern die reale, physische Welt ist, dann sind auch reale Konsequenzen greifbar. Erfolg wird immer danach zu bewerten sein, was offline geschieht und nicht online. In Kommunikationsnetzen wird der Erfolg zu oft daran gemessen, wie viele Menschen online sind, wie lange sie online bleiben und wie viele Unterhaltungen online stattgefunden haben. Ich sage dazu nur: Wen interessiert's? Der Akt der elektronischen Kommunikation ist zur Zeit doch nur deshalb interessant, weil er noch Neuheitswert hat. Er ist aber folgenlos, sofern sich unser Verhalten im wirklichen Leben nicht ändert.

SPIEGEL Online: Aber wird es dadurch, daß es so viel leichter geworden ist, Informationen abzurufen und an Entscheidungen mitzuwirken, nicht zur Beteiligung von mehr Bürgern an der Politik führen?

Blau: Ich denke, der leichtere Informationszugang, die bessere Möglichkeit zum Debattieren der eigenen Ideen und die leichtere Koordination von Aktionen werden nicht unbedingt etwas an den Gründen ändern, warum die meisten Leute heute nicht viel von Politik wissen wollen. Wenn es zutrifft, daß in einigen westlichen Demokratien eine Legitimitätskrise herrscht - besonders in den USA, wo nicht einmal die Hälfte der Wahlberechtigten zu den Urnen geht - dann wird die Erleichterung der politischen Betätigung kaum ein wirksames Argument sein, um Leute zum Mitmachen zu bewegen.

Das Argument mit dem erleichterten Informationszugang fußt auf der Annahme, daß es ein Mangel an Information ist, der die effektive politische Partizipation der Bürger behindert. In Wirklichkeit leiden wir aber nicht unter einem Mangel an Informationen, jedenfalls nicht die oberen vier Fünftel unserer Gesellschaft. Im Gegenteil, wir haben zu viele Informationen. Und es gibt zu viele andere Dinge, mit denen sich die Menschen lieber beschäftigen. Im schlimmsten Fall haben wir es hier also mit einer Lösung zu tun, die nach einem Problem sucht.

SPIEGEL Online: Die Folgen, die das Internet für die herkömmliche Politik hat, werden demnach geringer ausfallen als erwartet?

Blau: Wir sollten uns nicht naiv optimistisch der Vorstellung hingeben, daß uns das Internet eine bessere, demokratischere Politik bescheren wird. Daß mehr kommuniziert werden kann, bedeutet noch lange nicht, daß es auch getan wird, denn schließlich muß ja auch der Wille dazu vorhanden sein. Daß eine Organisation die Möglichkeit erhält, mehr Input von außen aufzunehmen, bedeutet nicht, daß sie diesen Weg auch wirklich geht.

Bürokratien und Organisationen haben ihre eigenen Denk- und Verhaltensweisen. Es sind Systeme, und als solche passen sie sich an, entwickeln sich weiter. Ich bin der Meinung, daß wir die Grenzen, die Berührungsstellen zwischen technologischen Systemen, organisatorischen Systemen und sozialen Systemen nicht genügend beachten. Wir haben also ein soziales System und ein technologisches System, die sich beide anpassen und weiterentwickeln. Da werden die Organisationen nicht einfach zuschauen und tatenlos Veränderungen hinnehmen, die ihnen aufgezwungen werden.

SPIEGEL Online: Aber es heißt doch: "Im Internet weiß niemand, daß Du ein Hund bist". Ist nicht der grundsätzlich anti-institutionelle, anti-hierarchische Charakter des Internet einer seiner demokratischen Vorzüge?

Blau: Die organisatorischen Systeme werden auf diese technologisch-sozialen Herausforderungen reagieren und neue soziale Schwellen definieren. Es wird neue Erkennungszeichen für Status geben, es wird neue Symbole für Macht geben und es wird neue Zeichen für all jene Dinge geben, denen wir im Interesse der Demokratie, wie aus dem Internet verlautet, keine Beachtung mehr schenken müssen. Aber die sozialen Anzeichen für Macht und Status, die im Internet angeblich unsichtbar bleiben, werden wiederauferstehen, weil sie höchst nützlich sind, für den einzelnen ebenso wie für die Gesellschaft. Ob sie einem gefallen oder nicht, ob man lieber andere hätte oder nicht - wir alle bedienen uns solcher Signale. Für die Menschen sind das Chaos und die Unmengen von Rohinformationen, die ihnen vorgesetzt werden, einfach zuviel. Also werden sie Mechanismen zu ihrer Bewältigung entwickeln.

Ich will damit übrigens überhaupt nicht sagen, das Internet sei etwas Schlechtes oder müsse gar gestoppt werden. Das ist nicht meine Meinung. Ich halte es für eine prima Sache. Nur ein Patentrezept zur Erneuerung der Demokratie ist es nicht.

SPIEGEL Online: Wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Das Interview führte Lorenz Lorenz-Meyer.

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